Wie viele bin ich?

Sprache gibt uns die Möglichkeit, zu zeigen, wer wir sind. Wer in mehreren Sprachen zuhause
ist, kann die Dinge genauer benennen – und sich vielleicht auch selbst besser verstehen.

Veröffentlicht am 18.06.2022 in der Wochenendbeilage der Frankfurter Rundschau (fr7)

Foto: Pexels/Tima Miroshnichenko

Wenn ich Englisch spreche, bin ich anders. Ich bin emotionaler: Gefühlige Gespräche mit meinem Partner werden auf seiner Muttersprache Englisch geführt. Auf Englisch kann ich aussprechen, was ich auf Deutsch aufgrund von Hemmungen oder meiner Abneigung gegen Kitsch nie sagen würde. Aber auch über nichts kann ich auf Englisch besser reden, Smalltalk geht mir deutlich leichter von den Lippen.

Smalltalk ist in vielen englischsprachigen Kulturen eben auch viel wichtiger als bei uns, man trainiert die Fähigkeit daher mehr. Mit einer neuen Sprache erlernt man auch die dazugehörigen Verhaltensweisen. Menschen, die fließend Deutsch und Spanisch sprechen, sind auf Spanisch immer ein paar Dezibel lauter, erklärt Peter-Arnold Mumm, Sprachwissenschaftler an der LMU München. Erst wenn man solche kulturellen Standards als Habitus verinnerlicht hat, ist man in einer Sprache wirklich zuhause.

Dann springt man zwischen den Sprachen, die einem gehören, hin und her. Das Gehirn trennt die Sprachen nicht mehr klar, es nimmt einfach den Ausdruck, der zuerst da ist. Fällt einem ein Wort nicht ein, greift man zur anderen Sprache. So kann man die Lücken im grammatischen Bauwerk füllen. Code Switching nennt man das in der Wissenschaft. Und: „Das machen alle“, sagt Kerstin Kazzazi, die an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt unter anderem zu Mehrsprachigkeit forscht und selbst mit ihrer Familie dreisprachig lebt.

Code Switching passiert unwillkürlich, kann aber auch von Situationen oder Orten abhängig sein. Auf der Straße sprechen mein Freund und ich selten Englisch, in einer beengten U-Bahn nie – selbst wenn das Thema für uns ein Englisches wäre. Für ihn  ist es wichtig, nicht als Ausländer aufzufallen oder – noch schlimmer – für einen Touristen gehalten zu werden.

 

Dabei wird dem Englischen eine Menge sogenanntes „kulturelles Kapital“ zugeschrieben. Englisch zu können – oder auch Französisch, Spanisch oder Mandarin – wird als Fähigkeit höher angesehen als Türkisch, Polnisch oder Zulu. Deswegen bringen manche Eltern, die weniger prestigereiche Sprachen sprechen, ihren Kindern ihre Sprache gar nicht mehr bei – oft aus Angst, ihre Kinder könnten die Landessprache nicht ausreichend gut lernen.

Kazzazi bedauert diese Entscheidung mehrsprachiger Eltern sehr. Jede Art von Sprachkompetenz sei grundsätzlich gut. „Sprachenlernen ist immer sinnvoll, um andere Arten, die Welt zu beschreiben, kennenzulernen.“

Mehrsprachigkeit beeinflusst Kazzazi zufolge, wie man sich selbst sieht: „Man vergleicht ständig, sieht die Welt durch verschiedene Brillen. Man setzt sich im Dauermodus mit Sprache und damit auch mit der Welt und seiner Person auseinander.“ Das kann auch zusammenschweißen, wenn man in einer Familie oder Beziehung Sprachen verschmelzen lässt und eigene Codes, also Ausdrucksweisen, entwickelt. Denn so nimmt man die Welt des anderen an und wird selbst Teil seiner Welt: Ich sehe die Welt nicht nur durch deine Augen, ich spreche sie auch durch deine Worte.

 

Wenn man also mit mehr als einer Sprache aufgewachsen ist oder sie sich über Jahre zusammen mit ihrem Habitus angeeignet hat, trägt man dann nicht auch mehrere Identitäten in sich? Die Journalistin und Autorin Kübra Gümüşay schreibt in ihrem Buch „Sprache und Sein“ davon, wie sie im Türkischen betet, weint und Gedichte schreibt, im Deutschen schnell spricht, sich im Englischen frei und entspannt fühlt und das Arabische mehr als Gefühl und Melodie wahrnimmt, von der ihr immer ein Teil verschlossen blieb. Vielen Menschen geht es ähnlich, sie können sich in verschiedenen Sprachen auf verschiedene Weise zeigen.

Aber: Wer in mehreren Sprachen zuhause ist, hat deswegen nicht mehrere Identitäten. Identität meint immer auch einen Ausschluss des anderen. Wenn ich mich vollständig durch meinen Beruf definiere, treten prägende Dinge wie meine Herkunft, meine Erfahrungen und meine Familie in den Hintergrund. 

Sprache prägt den Charakter – aber sie kann ihn nicht aufspalten. Man ist nicht plötzlich eine andere, wenn man anders spricht. Weil man aber gelernt hat, dass die Dinge viele Namen haben, weil man vielleicht Wörter für die Graustufen zwischen ihnen hat, kann man die Dinge genauer benennen. Wenn mich Dinge beschäftigen und ich sie auf verschiedene Arten betrachte, weil ich sie auf verschiedenen Sprachen durchdenke, werden sie mir klarer. Mehrere Sprachen geben mir mehrere Arten, mich auszudrücken, meinen Charakter zu zeigen mich verständlich zu machen – auch vor mir selbst. Mit mehr Wörtern im Kopf bin ich näher bei mir.

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